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Buchtipp: GTA – Grande Traversata delle Alpi

Cover - GTA - Grande Traversata delle Alpi
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Buchtipp:

GTA – Grande Traversata delle Alpi

Durch die vergessenen Täler des Piemont

Wir möchten Euch heute den sehr schönen Bildband “GTA – Grande Traversata delle Alpi” von Iris Kürschner & Dieter Haas vorstellen, welcher im März 2014 erschienen ist. Eine unvergessliche Fußreise durch den italienischen Westalpenbogen: Die Grande Traversata delle Alpi (kurz GTA) ist eine der spannendsten Alpendurchquerungen. Sie führt durch abgelegene, fast vergessene Täler des Piemont. Mit beeindruckenden Aufnahmen und lebendigen Erzählungen gibt dieser Bildband Einblick in einige der schönsten und ursprünglichsten Winkel der Alpen und in einen vielfältigen Kulturraum, der immer mehr zu verschwinden droht.

Vom nördlichsten Punkt des Piemont führt die Route – teilweise mit gewaltiger 4.000er-Kulisse – auf alten Saumwegen über entlegene Alpen und ursprüngliche Dörfer bis ans Mittelmeer. 1.000 Kilometer und 65.000 Höhenmeter haben die Bergjournalisten und Fotografen Iris Kürschner und Dieter Haas auf der GTA zurückgelegt. Sie nehmen die Leser mit auf diese erlebnisreiche Wanderung und geben mit einfühlsamen Porträts einen Einblick in das Leben der Menschen, denen sie unterwegs begegnet sind.

Die Autoren folgen den Wegen der Walser und Waldenser, entdecken eine alte Goldgräberstadt, erleben Wallfahrten, erkunden Geisterdörfer, lassen sich von den Dolomiten von Cuneo bezaubern und stoßen in den Seealpen sogar auf Wolfsspuren. Abends schwelgen sie in den Spezialitäten der Region. Sie sind fasziniert von der Landschaft und der einfachen Lebensweise der Menschen. Beeindruckt sind sie auch von der kulturellen Vielfalt, die durch die Abgeschiedenheit der Täler in ihrer Ursprünglichkeit erhalten blieb – weit entfernt von touristischer Folklore.

Die »vergessenen« Alpentäler des Piemont sind eines der größten Entsiedlungsgebiete der Alpen. Doch die GTA gibt den Einheimischen Hoffnung. Der sanfte Tourismus schafft Verdienstmöglichkeiten vor Ort und trägt dazu bei, die Traditionen zu bewahren.

Wer glaubt, die Alpen zu kennen, wird sich nach der Lektüre dieses Bildbands nicht mehr so sicher sein.

Cover - GTA - Grande Traversata delle Alpi

Foto: Bergverlag Rother

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Leseprobe:

Vom Monte Rosa zur Pforte des Aostatals

Pilgerwege und Wallfahrtsstätten

Das Schwarze Tal
In seinem Buch »Das Schwarze Tal« berichtet Eberhard Neubronner von seinen Eindrücken im Val Vogna, dem Seitental von Alagna:

»Der nächste Weiler Ca’ Vescovo schläft. Ein Fenster des ersten Hofs steht offen, mehrere Wiesen liegen gemäht, Heu ist zu Haufen geschichtet.

Permesso? Niemand antwortet. Meine Schritte freilich sind laut genug, um hinter Vorhängen Neugier zu wecken. Irgendwo gurgelt Wasser. Längs eines Türstocks entziffere ich den Namen Carmellino Gino in Blech gestanzt. Daneben hat jemand ein Papier ans Holz geheftet, dessen Text mich von oben herab informiert:

“ºNähere dich diesem Platz mit Respekt und achte alles, was du hier findest. Wenn nicht du es mühevoll hergeschafft hast, hat ein anderer diese Arbeit getan… Liebe mich, und ich werde dich nicht enttäuschen. Sei mutig, und du wirst gewinnen… Auf 1500 Meter Höhe vergiss, wer du bist. Zu Menschen unterschiedlichen Alters sage “ºIhr”¹, zu Gleichaltrigen “ºDu”¹… Auf 2000 Meter vergiss die Welt, deine Sorgen, die Steuern und lebe in Frieden. Auf 2500 Meter lege dein Ich ab, den Hochmut, die Kultur und auch deine Körperschaft, denn wenn du hier oben bist, unterscheidet dich nichts mehr von den anderen… Überschätze dich nicht, kleiner Mensch, denn bevor du kamst, war ich schon da, und wenn du gehst, werde ich immer noch sein. Gezeichnet: die Berge.”¹

[…] Gern hätte ich den großen Unbekannten gefragt, was ihn zum Schreiben verleitet hat, doch er lüpft seine Tarnkappe nicht. Die Belehrung ist vor vier Jahrzehnten gedruckt worden. Jetzt wirkt sie aktueller denn je im Zusammenhang mit morschen Fassaden, verkrauteten Hausgärten und den brökelnden Steinen des Backofens«.

Unterwegs in den Bergen des Piemont lässt ihn das Val Vogna nicht mehr los. Er kehrt wieder, immer wieder, sucht den Zugang zu den Einheimischen. Erst begegnet dem Fremden Skepsis, doch zaghaft öffnen sich ihm Türen in Gedankenwelten. In eigenwilligem Schreibstil schafft der Autor einen intensiven Einblick in eine Welt, die uns beim raschen Durchwandern verborgen bleibt:

»Fremde wissen nichts. Wer sagt euch, wie man hier gelebt hat? Dieses Tal war nie reich genug, alle Löcher zu stopfen. Also sind unsere Vorfahren auf den Colle Valdobbia und weiter nach Frankreich gezogen. Sie haben zwischen April und Dezember als Stuckateure, Schreiner, Maurer oder Gipser gearbeitet; dann wurde daheim das Ersparte verbraucht und im Frühling von neuem westwärts gewandert. Manche Familien hatten am Christfest …
… keinen Besuch?

Preciso. Die Emigranten kehrten nicht mehr zurück und wurden für tot erklärt. Unsere Frauen aber trugen wie Jesus ihr Kreuz, denn oft folgte der Armut ein hartes Getuschel: Luigi? Nun ja, meine Beste, du kennst ihn. Er liebt buntere Röcke! Giulio, Sohn des Celso? Ihm winken jetzt Weißbrot, Likör …

Nein, meint Angiolina, an solchen Schicksalen sehe sogar der Teufel vorbei: allein mit hungrigen Kindern, lahmen Eltern und brüllendem Vieh; ohne Geld für den Veterinär, die Schulbücher oder das eigene Hemd; dazu Bergstürze, Muren, Lawinen, Hagelschlag, Hochwasser, verregnete Ernten und Teuerung. Santa Madonna.«

Bergflanken, so eng, als wollten sie das Tal verbergen. Das Pflaster des alten Saumweges brökelt, auch die Trockenmauern. Himbeeren am Wegesrand. Kleine Kirchen mit bunten Fresken. Ineinander verzahnte Walserhäuser, die wie kleine Nester am Hang kleben, darum herum ein Ring gemähter Wiesen. Noch! Es gibt kaum mehr Einwohner. Vielleicht nicht einmal mehr zwei Dutzend. Ohne die Familie des Rifugios Sant’Antonio wär’s gar eine Handvoll weniger. Neubronner weiß: »Dunkler Wald macht sich breit. Irgendwann, wenn wir nicht mehr leben, wird das Val Vogna wieder zum SchwarzenTal.«

GTA - Walser Baukunst in Peccia

Walser Baukunst: Peccia im Val Vogna. Charakteristisch sind die auskragenden Lauben. Die Leitergestelle werden zum Trocknen von Heu und Getreide genutzt. – Foto: Iris Kürschner

Bella Biella
Am Colle della Mologna Grande holen uns bepackte Mulis ein. Sie tragen Käse zum nur wenig unterhalb der Passhöhe gelegenen Rifugio Rivetti. Ein gutes Vorzeichen, der Hüttenwirt ist uns schon jetzt sympathisch. Bei klarer Sicht lockt die Punta Tre Vescovi, die vom Pass in nur 20 Minuten bestiegen werden kann. Noch besser ist es, am nächsten Morgen zum Sonnenaufgang an den Punkt, wo sich drei Bistümer vereinen, aufzusteigen – ein kleines Training vor dem Frühstück. Hungrig und müde treffen wir am Rifugio ein. Der Älpler ist bereits beim Apèro und die Mulis mümmeln an den zarten Kräutern, die es zwischen den Steinen der Terrasse zu fassen gibt. Der Blick kann hier direkt zur Po-Ebene schweifen. Seit dem Pass befinden wir uns im Biellese, wie sich die kleinste Provinz rund um das Städtchen Biella nennt. Von Alessandro Zoia, dem Hüttenwirt, werden wir mit bester Kost verwöhnt – Antipasti, Pasta mit frischen Tomaten und Basilikum, zarte Lammstücke mit verschiedenen Soßen, Röstkartoffeln und zu guter Letzt noch seine Dessertkreation: Schokosalami. Alessandro kommt aus einem kleinen Dorf an der Strada Zegna. Eine berühmte Panoramastraße, erklärt er uns, die sich am Alpenrand des Biellese entlangzieht. Textilfabrikant Ermenegildo Zegna, dessen Firma, heute als Weltmarktführer im Bereich Herrenkollektionen, bereits in der vierten Generation geführt wird, ließ die Straße in den 1930er-Jahren erbauen, um die Regionalentwicklung zu fördern. Im Umkreis wurde mit Aufforstung, Zierpflanzungen und neuen Wanderwegen ein etwas fragwürdiges Erholungsrevier geschaffen. Hier oben ohne die gestylte Natur fühlt der Hüttenwirt sich wohler.

GTA - Il Cuore del Parco

Il Cuore del Parco”¹, das Herz des Parks, nennen die Einheimischen das Seenplateau über dem Col del Nivolet. – Foto: Iris Kürschner

Stippvisite im »Bürsch«
Zwei schmucke Dörfer warten unten, Piedicavallo und Rosazza. Letzteres überrascht durch eine ungewöhnliche Stilmischung. Die Kirche gibt sich in lombardischem Design, die Türme des Castello di Rosazza erinnern an Schottland. Alte Walserhäuser zwischen Villen mit prächtiger Fassadenmalerei, Säulen, Arkaden, Brunnen … Das Potpourri der Architektur geht auf den Rechtsanwalt und Senator Federico Rosazza zurück, der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf seinen Reisen durch aller Herren Länder inspirieren ließ und sein Geld in den Bau zahlreicher Gebäude in seinem Heimatdorf investierte. Gianni Valz Blin ist auch ein gebürtiger Bürscher, seine Vorfahren waren Walser, die sich hier im oberen Valle Cervo niedergelassen hatten. »”ºBürsch”¹ nannten die Kolonisten ihre neue Heimat«, erzählt er uns. Blin ist das lebende Lexikon des Dorfes. Zu jedem Winkel weiß der pensionierte Architekt eine Geschichte. Damit Besucher auch ohne ihn nicht ahnungslos durch die hübschen Gassen schlendern müssen, hat er sich in Eigeninitiative um Informationstafeln an den wichtigsten Punkten gekümmert. Außerdem gehörte Blin einer Gruppe Engagierter an, die historische Alltagsutensilien, Dokumente und Fotos aufstöberten, um das kulturelle Erbe wachzuhalten. Mitte der 1980er-Jahre erstand die Comunití  Montana Alta Valle Cervo ein Walserhaus aus dem 18. Jahrhundert im Zentrum von Rosazza und 1987 konnte es als Museum eingeweiht werden. Mittlerweile gehört es zu einem ganzen Netz an Ecomuseen. Im Biellese gibt es allein 17 solcher Freilichtmuseen. Die Idee kommt aus Frankreich. Die Museologen Georges Henri Rivière und Hugues de Varine entwickelten Anfang der 1970er-Jahre ein völlig neues Museumskonzept. »Eco« ist abgeleitet von »écologie« (Ohkologie). Ein Ecomuseum will das kulturelle Erbe lebendig halten, mit Veranstaltungen und aktiver Teilnahme der Besucher die Wechselbeziehung von Mensch und Natur verdeutlichen und das kulturelle Erbe auch aktuell in die Entwicklung des Landschaftsraumes einbeziehen.

Blin hat die Schlüssel der »Casa Museo« dabei. Es ist nur sonntagnachmittags geöffnet oder eben auf Anmeldung. Zu sehen gibt es Stall, Küche, Schule … Besonders interessant sind die vergilbten Fotografien. Sie zeigen verwegene Gesichter von Menschen, die die Kunst des Steinabbaus beherrschten und oft in andere Länder gingen, um sich als Steinmetze und Maurer zu verdingen. Die Männer aus dem Valle Cervo waren beteiligt am Bau des Doms von Mailand, der Kartause von Pavia, der Festungen der Savoyer, wie Fenestrelle, Exilles, Bard und Esseillon, der Passstraßen von Mont Cenis und Simplon. Aber auch in Übersee, in New York, Südamerika und Asien, waren sie tätig. Einige Steinbrüche im Valle Cervo, dem »Valle di Pietra«, sind zwar schon stillgelegt, aber Syenit werde noch immer abgebaut, erfahren wir von Blin. Das harte Gestein, benannt nach dem altägyptischen Fundort Syene, ist in Europa äußerst rar. Die vergilbten Fotografien zeigen aber auch starke Frauen. Während die Männer »hämmerten«, waren sie die Oberhäupter von Hof, Kindererziehung und Landwirtschaft. Nebenbei verarbeiteten sie den angebauten Hanf zu Kleidung, Bettwäsche und »Scapin«, wie die warmen und bequemen Hausschuhe genannt werden, von denen wir uns am liebsten welche mitnehmen würden, wenn wir nicht auf einem so langen Fußmarsch unterwegs wären. Schön, dass auch Kurse angeboten werden, damit die Scapin-Herstellung nicht ganz in Vergessenheitgerät.

Viel hat sich seitdem verändert. Landwirtschaft wird kaum mehr betrieben. Die meisten Bewohner des Valle Cervo sind Pendler und fahren morgens mit dem Auto hinaus zu den Firmen in der Ebene und abends wieder zurück ins Tal. Die Fußwege gehören uns.

GTA - Wallfahrtsberg Rocciamelone

Auf dem Gipfel des Rocciamelone, dem höchsten Wallfahrtsberg Europas, liegt einem die Welt zu Füßen. – Foto: Iris Kürschner

Uralte Pilgerwege
Nach der Wanderung durch die engen Walsertäler ist die Route durch das Biellese fast ein Spaziergang. Die Täler sind kurz, wir kommen der Po-Ebene ganz nah und werden mit fantastischen Weitblicken verwöhnt. Ein spiritueller Abschnitt. Wir wandeln auf alten Pilgerwegen und übernachten in Klöstern. Von Rosazza ist es nicht mehr weit bis zum Santuario San Giovanni d’Andorno. Ein kurzes Stück Straße, dann leitet die GTA-Markierung durch den Weiler Jondini in den Wald. Der typische Geruch aus Moos, Pilzen und feuchtem Laub füllt die Lungen. Im Dunkel mächtiger Buchen taucht eine Kapelle auf. Feuchtigkeit macht ihr zu schaffen, der Putz blättert ab. Vielleicht gerade wegen des trostlosen Äußeren lässt uns die Neugier am vergitterten Fenster verharren. Zunächst nichts als Schwarz, dann Gänsehaut, denn die dunklen Augenhöhlen eines knöchernen Schädels starren uns an. Erst eine Weile später lassen sich mehr Konturen erkennen. Maria Magdalena, Schutzpatronin der Frauen, kniet als lebensgroße Figur mit wallendem Haar betend am Altar mit Totenkopf und Kreuz. Kunstvoll auch die Bemalung an der Wand dahinter: Engel, die die heilige Büßerin in die Lüfte begleiten. Die Cappella di Santa Maria Maddalena ist eine von fünf Kapellen am steilen Pilgerweg von Campiglia Cervo im Talgrund nach San Giovanni hinauf.

Das Kloster wirkt freundlicher, es liegt mit prächtigem Blick auf einer Terrasse hoch über dem Valle Cervo (früher auch Valle d’Andorno genannt). Das Wasser aus einem großen Brunnen mit Trinkkellen im offenen Innenhof löscht den ersten Durst. Unter Arkaden sitzen ein paar Alte beim Kartenspiel und Aperitif. Über knarzende Treppen geht es in das Pilgerzimmer, das uns der Patron zuweist. Erleichterung, als wir den schweren Rucksack von den Schultern nehmen. Feierabend. Beim Bummel durch die Klosteranlage kommen wir mit Guido Nicodano ins Gespräch. Er arbeitet in der Administration und will uns die Bibliothek zeigen, die wahre Schätze birgt und bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht. Im Inneren der Kirche finden wir auch die Grotte mit der hölzernen Heiligenfigur von San Giovanni Battista, Johannes dem Täufer, um die in den Jahren 1602 bis 1606 das Gotteshaus herumgebaut wurde. Schon manches Wunder, vor allem bei Augenerkrankungen, soll das aus dem Stein der natürlichen Grotte heraustretende Wasser bewirkt haben. Nur wenig oberhalb im Wald würden sich weitere Kapellen des Sacro Monte und ein Glockenturm verstecken, verrät Nicodano. Darin hänge die größte und schwerste Glocke des Biellese. Der »Campanone« (übersetzt »riesige Glocke«) läutet die Einwohner bei besonderen Anlässen zusammen. Nicodano will uns auch sein Wohnhaus nicht vorenthalten: die 1885 erbaute Villa Flaminia, ein Juwel im Schweizer Chalet-Stil, im Weiler Bele, nur ein paar hundert Meter vom Kloster entfernt. Zum Thema Sacro Monte (siehe auch Seite 51) sagt Nicodano: »Zum Pilgern ist der Berg wichtig, auch Jesus versammelte seine Jünger auf einem Berg. Das Aufsteigen bedeutet Mühsal, aber oben warten Ruhe und Einsamkeit. Auf dem Berg sind wir Gott näher.«

GTA - Rocciamelone Sonnenaufgang

Aufstieg zum Sonnenaufgang auf den Rocciamelone. – Foto: Iris Kürschner

Die kühnste Straßenbahn Italiens
An der Eingangspforte des Santuario zeigt ein großes Schild den Verlauf der Alta Via della Fede (Weg des Glaubens). Tracciolino sagen die Einheimischen auch, was Höhenweg bedeutet. Er wurde in den 1950er- und 1960er-Jahren für Wanderer ausgebaut und verbindet die Pilgerstätten von San Giovanni und Oropa. Das Schöne: Ohne nennenswerten Höhenunterschied windet er sich durch die Hänge des Monte Cucco und lässt viel Aussicht über die Po-Ebene und die sich abrupt aus dem Flachland aufschwingenden Berge zu. Er scheint uns eine bessere Alternative als die GTA-Route zur Galleria Rosazza und über den Kamm, wo längere Abschnitte der alten Mulattiera einer Straße gewichen sind. Wir freuen uns über den goldenen Morgen, erfüllt von Vogelgezwitscher. Tau glitzert in Perlenketten an langen Grashalmen. Nicht immer ist der Tracciolino so ausgeputzt, wie man es sich wünschen würde. Mitunter werden die Hosenbeine nass, dann wieder erlaubt die breite Trasse ein genussreiches Nebeneinanderschlendern.

Ende des 19. Jahrhunderts gab es Pläne, vom Valle Cervo eine Bahntrasse durch die Hänge des Monte Cucco nach Oropa zu legen. Man entschied sich dann doch für den direkteren Weg von Biella durch das Valle Oropa. Den Motor für die Tram lieferte die Schweiz, jenen, der schon die Centovallibahn im Tessin in Fahrt gebracht und der inzwischen dort ausgediehnt hatte. Am 4. Juli 1911 konnte die erste elektrische Straßenbahn der Provinz und zugleich die höchstgelegene des Landes eingeweiht werden – immerhin liegt Oropa auf über 1000 Meter. »La tramvia pií¹ ardita d’Italia«, die kühnste Straßenbahn Italiens, betitelten die Zeitungen den Geniestreich. Auf 14,25 Kilometern überwand die Straßenbahn 740 Höhenmeter über Kehrschleifen und Viadukte. Die Anfahrt nach Oropa wurde für sich zum touristischen Erlebnis. Konkurrenz kam mit dem Automobil. Als in den 1950er-Jahren eine Totalrevision anstand, wich die Bahn dem Bus, das Aus für die Straßenbahn kam am 29. März 1958. Geblieben ist nur mehr die Trasse und ein alter Waggon an der Endstation in Oropa. Heute denkt man wieder anders, erinnert sich wehmütig an die Straßenbahn und es gibt Überlegungen, diese Linie wieder in Betrieb zu nehmen. Es könnte einen Mehrwert für die Region bedeuten. Die Schweiz ist da Vorbild.

Auf dem Tracciolino liegt uns eine ganze Weile das Häusermeer von Biella zu Füßen, die Wiege der Textilindustrie, die Geburtsstätte von Mountain Wilderness, die Heimat des vollmundigen Menabrea-Bieres – wir werden uns später am Etappenziel eines genehmigen. Auf der Westseite des Monte Cucco taucht der Weg in den Wald ein. Unsere Überraschung lässt sich kaum beschreiben, als sich das Blättermeer öffnet und Oropa preisgibt.

GTA - Baeuerin bei Pontebernardo

Junge Nachfolger fehlen oft. Betagte Bäuerin bei Pontebernardo. – Foto: Iris Kürschner

Heilige Berge
Natürlich hat auch Oropa einen Sacro Monte. Die Idee zum Sacro Monte brachte der Mailänder Mönch Bernardino Caimi Mitte des 15. Jahrhunderts von seiner Pilgerreise ins Heilige Land mit heim. Für Gläubige, die weder die Bibel lesen noch nach Jerusalem reisen konnten, wollte der Franziskaner eine anschauliche Nachbildung schaffen. So entstand ab 1491 ein »Neues Jerusalem« auf dem Berg von Varallo am Eingang ins Valsesia. Als seien sie lebendig, zeigen meisterhaft modellierte Szenarien in unzähligen Kapellen die Passionsgeschichte Christi. Das Beispiel machte Schule. Allein im Biellese gibt es drei Sacri Monte. Sieben der Heiligen Berge des Piemont sind seit 2003 UNESCO-Weltkulturerbe, darunter Oropa, eines der wichtigsten Heiligtümer Italiens. Oropa ist eine gigantische Anlage, fast wie eine kleine Stadt, mit Restaurants, Läden, Arzt und Apotheke, eben allem, was der Pilger so braucht. Die Kuppel der Basilika wölbt sich 80 Meter hoch, in ihr finden 3000 Gläubige Platz. Jährlich besuchen um die 800.000 Pilger die Wallfahrtsstätte, finden mehr als 100 Prozessionen statt. Abends umfängt einen hier eine wunderbare Stille und der Blick darf sich im Lichtermeer der Po-Ebene verlieren, so als ob unter einem ein Tuch voller Kerzen ausgebreitet wurde. Mittelpunkt der Verehrung ist die Schwarze Madonna, um die vor 700 Jahren das erste Gotteshaus der Anlage gebaut wurde.

Wir sind an einem ganz besonderen Wochenende hier. In Fontainemore jenseits des Gebirgskamms wird sich am Abend eine Pilgerschar aufmachen und die ganze Nacht durchwandern, um der Schwarzen Madonna Ehre zu erweisen. Es war ein Hirte aus Fontainemore, der die Statue der Schwarzen Madonna einst gefunden hatte, als er seine Schafe in Oropa weiden ließ. Nur alle fünf Jahre findet diese Wallfahrt statt.

Das Ereignis wollen wir uns auf keinen Fall entgehen lassen. Mit dem nostalgischen Korblift fahren wir zur Capanna Renata am Monte Camino hinauf, einem jener magischen Aussichtspunkte über der Po-Ebene, wo man das Gefühl hat, bis zum Meer schauen zu können, wenn nicht gar bis nach Rom. Hier oben wollen wir die Gläubigen bei Sonnenaufgang abpassen. In der Hütte gibt sich die Bergwacht ein feuchtfröhliches Stelldichein, bevor es zum nächtlichen Einsatz bei der Pilgerbetreuung geht. Ein Grappa nach dem anderen macht die Runde. Dementsprechend schwer ist das Aufstehen um zwei Uhr nachts. Im Stockdunkeln noch etwas benebelt durch die Felslandschaft zu tappen, ist nicht so einfach. Am nahen Colle della Barma trudeln schon die ersten Pilger ein, bei vielen ist Ausrüstung und Kondition eher dürftig, die Bergwacht hat alle Hände voll zu tun. Es gibt heißen Tee. Viele sind erschöpft, legen sich hin auf den nackten Boden, andere versuchen, ein Feuer zu entzünden, um sich zu wärmen. Stundenlanges Warten, bis 3000 Menschen auf der Passhöhe angekommen sind. Erst zum Sonnenaufgang geht es weiter, ein schier endloser Tatzelwurm, der sich, müde oder aufgekratzt, singend und Gebete murmelnd nach Oropa bewegt.

Wir hingegen folgen weiter der stillen GTA, wandern bis ins Tal der Dora Baltea, die hier aus dem Aostatal in die Po-Ebene fließt. Am Morgen noch die karge alpine Welt und klirrende Kälte, ein paar Stunden später empfangen uns Palmen, Weingärten, üppige Vegetation und tropische Hitze. Quincinetto liegt auf 295 Meter Seehöhe und ist der tiefste Punkt der GTA, abgesehen vom Ziel natürlich.

GTA - Dino mit Veilchenkaese

Bauer Dino Agí¹ stellt auf der Alpe Selleries Veilchenkäse (Plaisentif) her. – Foto: Iris Kürschner

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Die Autoren:
Iris Kürschner, geboren in der Schweiz, hat bereits in der Kindheit ihre Begeisterung für die Berge entdeckt. Mit zehn Jahren hielt sie ihre erste Kamera in den Händen und fotografiert seitdem mit Leidenschaft. Bis heute veröffentlichte sie mehr als 30 Bücher, Bildbände sowie Wander- und Trekkingführer. 2012 wurde Iris Kürschner mit dem Walliser Medienpreis ausgezeichnet.

Im Wallis lernte sie auch den Österreicher Dieter Haas kennen. Er kümmert sich heute um die immer komplexer werdenden Anforderungen der Computer- und Fototechnik und um das Marketing der Vortragsreisen. Den größeren Teil des Jahres sind die beiden zu Fuß in alpinen Gebirgsregionen unterwegs. Im Mittelpunkt ihrer Reisen stehen vor allem die Menschen, ihr Leben in den Bergen, ihre Ansichten und Weisheiten, der Respekt vor der Natur.

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Inhaltsverzeichnis:

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Inhaltsverzeichnis – GTA – Grande Traversata delle Alpi

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GTA – Grande Traversata delle Alpi

iris Kürschner & Dieter Haas

144 Seiten mit 185 Farbabbildungen,

11 Höhenprofile  und eine Übersichtskarte im Maßstab 1:800.000

30,0 x 26,0 cm, gebunden mit Schutzumschlag

ISBN 978-3-7633-7063-4

Erschienen im März 2014

Quelle: Bergverlag Rother

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