Aus dem Buch “ABENTEUER Alpinklettern TIROL” von Otti Wiedmann, © Tyrolia Verlag
Klettertour
Kleine Zinne (2856 m)
Südwestwand, “Egger/Sauschek”, VI-/A0, frei VI+
Die Drei Zinnen würde ich ohne zu zögern als den “Königspalast der Dolomiten” bezeichnen, auch wenn auf der Südseite, zwischen Auronzohütte und Paternsattel, seit Jahrzehnten Motorenlärm und Halbschuhtouristen die Szene bestimmen. Von Süden erblickt man zunächst die etwas sanft abgestufte Felstreppe der Großen und Westlichen Zinne, aber bereits weiter östlich erhebt sich die dreigipfelige Bastion der Kleinen Zinne mit der mächtig, steil und glatt in den Himmel ragenden “Gelben Kante“. Weiter östlich erfolgt dann die visuelle Krönung: Welchem Kletterer oder Wanderer hat der erste Blick vom Paternsattel in die überhängenden, spiegelglatten Nordwände nicht die Sprache verschlagen? Welchem Nordwandaspiranten ist bei diesem Anblick nicht der Puls für einen Augenblick stillgestanden? Dieser Palast bildete die Kulisse für die Front des Ersten Weltkriegs. Die besten lokalen österreichischen und italienischen Bergsteiger der damaligen Zeit, die vor dem Krieg teilweise gemeinsam als Freunde unterwegs waren, mussten nun sinnlos gegeneinander für ihr “Vaterland” kämpfen und vielfach ihr Leben lassen. Unzählige Stollen, Tunnels, in den Fels gehauene Transportsteige und Schießscharten sind noch heute schaurige Zeugen dieser jahrelangen Kämpfe. Die Erschließungsgeschichte der Drei Zinnen stand lange Zeit im Brennpunkt des öffentlichen Interesses; sie verlief turbulent, medienträchtig und führte zu großen Kontroversen.
Als 1933 Emilio Comici mit riesigem Materialaufgebot der Nordwand der Großen Zinne erstmals eine Route abrang, begann die erste europaweit geführte Debatte über den Sinn oder Unsinn solchen Tuns. Comici war sicher ein großer Könner, aber vielleicht hatte er zu viel Respekt vor dieser Wand. Seine Linie ist zwar gnadenlos steil, aber doch – auch damals – gut kletterbar. Vielleicht wäre ein Vinatzer dort mit wesentlich weniger Haken ausgekommen. Heute zählt die “Comici” zu den beliebtesten Routen des Gebiets. Es gibt aber auch an den Drei Zinnen noch unbeachtete, herausragende Routen, in denen man immer noch Bergeinsamkeit genießen kann. Die “Eisenstecken” an der Kleinsten Zinne, die Comicikante der Kleinen Zinne oder die Mazzoranakante an der Großen Zinne sind Beispiele dafür. Auch die Südwestwand der Kleinen Zinne ist so ein Juwel.
Der unvergessliche Toni Egger eröffnete 1955 zusammen mit Hans Sauschek in der total abweisenden Wand links der “Gelben Kante” eine Freikletterführe mit nur minimalem Hakenaufwand. Es mag schon sein, dass Toni Egger an der Schlüsselstelle nicht unbedingt frei geklettert ist – das war damals auch nicht das oberste Gebot -, aber die wenigen Haken in der Rissreihe darüber (die ich bei einer sehr frühen Begehung mit Robert Troier antraf) zeugen von echter Freikletterei. Es musste schon ein Ausnahmekönner wie Toni Egger sein, um im bereits beginnenden Zeitalter der “Hakenleiter-Direttissima” eine fast ideale Linie in diesem Stil zu meistern. Die Route wird auch heute nur selten begangen, während in der rechts benachbarten modernen Sportkletterroute “Perlen vor die Säue” von Stefan Glowacz und Kurt Albert (1996), die immerhin im IX. Schwierigkeitsgrad liegt, recht häufig Seilschaften zu sehen sind.
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Routenbeschreibung:
Der auffallende schräge Riss in Wandmitte erübrigt fast eine Beschreibung, denn auch der Beginn der Schwierigkeiten in der gelben Einstiegswand ist kaum zu verfehlen. Die Dächer, die scheinbar den gelben Riss versperren, sind elegant zu umgehen und der Riss, der nach drei Seillängen auf ein bequemes Band führt, ist gar nicht so brüchig, wie er aussieht. Die steile Gipfelwand, die zur sogenannten “Anticima” führt, packt man etwas links an der erstbesten Möglichkeit an. Der nun sehr feste, graue Fels leitet in guter Griffigkeit zum breiten Gipfelband der “Anticima”. Der kurze Aufschwung zum Gipfel (Normalweg) ist Ehrensache, wenn er nicht gerade von Normalweg-Begehern verstopft ist.
Der Abstieg über den Normalweg kann über “Dreier”-Gelände im Zickzacklinie kletternd bewältigt werden (III), oder man bedient sich der aufwendig eingerichteten Abseilpiste, beides in Richtung der südseitigen Rinne zwischen Großer und Kleiner Zinne. Für den Abstieg muss man mindestens 1½ Stunden einkalkulieren.
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Erstbegeher /Erhalter:
Toni Egger und Hans Sauschek, 1955.
Schwierigkeit:
VI-/A0, frei geklettert eine Seillänge VI+.
Kletterzeit:
4 bis 5 Stunden (Wandhöhe 280 m).
Material:
Doppelseil (50 bis 60 m), 5 bis 6 Expressschlingen, ein paar mittlere bis größere Friends, ein paar mittlere Klemmkeile, Bandschlingen (60 und 120 cm).
Talort:
Misurina
Talort Höhe:
1756m
Höhe Einstieg:
2500m
Hütten:
Auronzohütte, Lavaredohütte
Ausgangspunkt:
Misurina bzw. Parkplatz Auronzohütte (2300 m), Mautstraße von Misurina, oder Lavaredohütte (2300 m), 20 bis 25 Minuten vom Parkplatz Auronzohütte (direkt unter den südlichen Einstiegen der Kleinen Zinne).
Gebietsüberblick:
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Karte:
Kompasskarte (Blatt 625) – Sextner Dolomiten (Maßstab: 1:25.000)
Diese und weitere interessante Klettertouren finden Sie in dem Buch “Abenteuer Alpinklettern Tirol ” vom Tyrolia Verlag.
Quelle: Tyrolia Verlag