-Gastbeitrag-
3 Gipfel, ein Urwald, Aussichten über die Po-Ebene bis hin zu den 4000ern im Wallis, zwei grundverschiedene Tessiner Bergtäler und zahlreiche idyllische Maiensäße. Oder auch: 2300 Höhenmeter im Auf- und 1500 Höhenmeter im Abstieg, 10 Stunden Wanderzeit sowie 18 Kilometer an zwei Wandertagen in der Sonnenstube der Schweiz – im Tessin.
Eingerahmt von den bekannten Alpenpässen Gotthard, Nufenen und San Bernardino im Norden und den Seen an der schweizerisch-italienischen Grenze im Süden, bietet das Tessin dem Wanderer eine wilde und wenig begangene Berglandschaft. Aufgrund seiner sonnigen Lage am Südrand der Alpen ist die Wandersaison hier besonders lang. Die Zeit für Wanderungen beginnt hier früher als anderswo.
Meine erste Wanderung in jedem Wanderjahr führt mich ins Locarnese, in das Hinterland von Locarno. Im Tal der hundert Täler, dem Centovalli, das Locarno auf der spektakulären Eisenbahnstrecke der Centovalli-Bahn mit dem italienischen Domodossola verbindet, beginnt eine zweitätige Wanderung, die vieles zu bieten hat. Sie ermöglicht einen facettenreichen Eindruck des Tessins, mit all seinen Besonderheiten und Gegensätzen. Und sie bietet dem Wanderer einen anspruchsvollen Wegverlauf, der die Saison nicht schöner beginnen lassen könnte.
In Intragna (339 m Höhe), dem größten Dorf im Centovalli, endet meine Bahnfahrt und die Wanderung beginnt. Bereits der Dorfkern von Intragna bietet einen nachhaltigen Eindruck des Charakters der Tessiner Bergdörfer. Platzsparend wird der wenige Platz, der an den Berghängen zur Verfügung steht, ausgenutzt. Der höchste Kirchturm des Tessins hat leider geschlossen, so daß ich nicht hinaufsteigen kann. Ich schlängele mich durch die engen Gassen hindurch und trete neben einem kleinen Weinberg wieder aus dem Dorf hinaus.
Ein alter Handelsweg führt mich im steilen Zickzack nach oben. Auf unendlich vielen Steinen, liebevoll zu einem Wanderweg geschichtet, führt mich meine Wanderung in den nächsten zwei Stunden durch die idyllischen Maiensässe Pila, Cremaso und Calascio. Dort wird mein Wandertempo immer wieder von den unzähligen versteckten Details und Fotomotiven abgelenkt. Bewundernd genieße ich die Friedfertigkeit hier oben am Berg, die meine Schritte weiter beschwingt. Alle Maiensässe sind nur zu Fuß erreichbar. Ein Blick zum Hang gegenüber sagt mir, daß es noch viele dieser Weiler darauf warten, von mir entdeckt zu werden. Welch’ ein Unterschied: die Ruhe und Abgeschiedenheit hier oben im Vergleich zu den quirligen und mondänen Ascona und Locarno, deren Ausläufer ich unten im Tal noch erkennen kann.
Nach einem kurzen steilen Stück beginnt der landschaftlich schönste Teil des ersten Wandertages. Ein Höhenweg mit einigen imposanten Felstreppen sowie wunderbaren Aussichten ins Centovalli führt kurvenreich auf die Hochfläche des Monte Comino (1155 m Höhe). Der perfekte Platz für eine Übernachtung. Gegenüber erkenne ich die Gipfel von Pizzo Leone und Ghridone und auch die Pyramide des Pizzo Ruscada (2004 m Höhe), über den ich morgen wandern werde, ist bereits von hier zu erkennen.
Jetzt heißt es aber erst einmal, den Moment zu genießen. Brigitte und Edy, die beiden herzlichen Gastgeber in der Alla Capanna auf dem Monte Comino, erwarten mich bereits. Wir kennen uns nun schon seit acht Jahren. Auch deshalb ist die Wiedersehensfreude groß. Es gibt viele Möglichkeiten, den Tag auf dem Monte Comino ausklingen zu lassen. Wer gerne noch ein Stück gehen möchte, dem sei der ein rund einstündiger Rundwanderweg auf der Hochebene empfohlen. Wer es gemütlicher mag, der verbringt die Zeit auf der aussichtsreichen Terrasse des ökologisch geführten Grotto. Wer es gerne warm mag, der wird sich seinen Platz auf den kleinen Holzbänken am offenen Kamin sicher wollen. Zum Abendessen kredenzen die Gastgeber ein einfach famos leckeres Steinpilzrisotto mit Rindsschmorbraten, von dem man gar nicht genug bekommen kann. Ein wunderbarer Abschluß des Tages, der außerdem genügend Energie schafft für den morgigen langen Wandertag. Wanderherz, was willst du mehr?
Am nächsten Morgen beginnt der Anstieg zur heutigen Königsetappe gleich recht steil. Durch Buchenwald und später über ein kleines Couloir erreiche ich den kleinen Vorgipfel des Pizzin (1510 m Höhe), der mich hinunter und hinüber bis zum Lago Maggiore blicken lässt. Der Gipfel des Pizzo Ruscada rückt immer näher. Eine halbe Stunde später stehe ich auf dem Pianascio (1643 m Höhe), dem zweiten meiner drei Gipfel. Auf der Krete entlang geht es im leichten Auf und Ab weiter, dann kurz und knackig ein Stück hinab, bevor der langgezogene Anstieg zum Pizzo Ruscada beginnt. Die Bäume werden sukzessive weniger, die Serpentinen steiler. Die letzten 200 Höhenmeter tun so früh im Wanderjahr doch etwas weh.
Doch dann ist der imposante Aussichtsgipfel ist endlich erreicht!
Kaum hat die Wandersaison begonnen, stehe ich schon auf meinem ersten Zweitausender! Nach einer Dosis Panoramagenuß und einer Mittagspause beginnt der lange Abstieg ins Valle Onsernone. Fast 1200 Höhenmeter Abstieg warten auf die Knie, die zweite Hälfte durch den Tessiner Urwald, der hoffentlich bald zum neuen Nationalpark “Locarnese” gehört. Der Abstieg ist ruppig. Viele Steine, Wurzeln und steile Passagen müssen überwunden werden. Die Wildheit des Waldes und die üppige Natur entschädigen für die Mühen. Durch eine kleine Schlucht erreiche die Brücke (856 m Höhe), die den rauschenden Bergfluß Isorno überquert. Ganz unten angekommen bin ich nun nach mehr als fünf Stunden Wanderzeit – nur um nochmals eine Stunde und 200 Höhenmeter wieder aufzusteigen.
Es gibt keine Alternative und so wandere ich Schritt für Schritt den Berg auf der anderen Seite des Flusses wieder hinauf. Bald werde ich durch eine Horde neugieriger und sanftmütiger Esel abgelenkt, die die letzten Meter hinauf ins Dorf Comologno (1085 m Höhe) zu einem Genuß werden lassen.
Im kleinen Dorf werden Blicke frei ins waldreiche und ungestüme Valle Onsernone. Das enge Tal, bei dem die Dörfer noch steiler als anderswo am Berghang kleben, fasziniert mit seiner landschaftlichen Beschaffenheit und seinem wilden Charakter. Am liebsten möchte ich jetzt gleich noch weiter wandern. Aber ich weiß, daß ich zurückkehren werde.
Nicht nur ins Tessin. Sondern auch ins wundervolle Valle Onsernone, wo noch so viele Wanderungen darauf warten, von mir erkundet zu werden.
Aber auch zum Tälerhüpfen dieser vergangenen zwei Tage.
Zu einer Wanderung, die zu einer schönen Tradition geworden ist.
Zu einer Wanderung, die neben den vielen landschaftlichen Höhepunkten auch kulinarisch nicht zu enttäuschen weiß und in diese zwei besonderen Tessiner Bergtäler führt, die unterschiedlicher nicht sein können.
Was meine Worte nur bedingt vermögen, müssen deine Wanderfüße schaffen: dich hinauf führen in die Berge des Centovalli und des Valle Onsernone, um deine Wandersaison mit einem vielstimmigen Erlebnis der Sinne zu beginnen.
_______________________________________________
Tourentipps, Unterkünfte und sonstige interessante Orte:
_______________________________________________
Reiseinfos:
Anreise:
Mit dem Zug:
Mit der Schweizerischen Bundesbahn SBB von Zürich, Bern oder Sankt Gallen aus via Bellinzona nach Locarno am Lago Maggiore. Von dort mit der Centovalli-Bahn, die Locarno mit dem italienischen Domodossola verbindet, bis nach Intragna. Intragna wird von Zürich und Bern aus in 3,5 Stunden erreicht.
Zurück mit dem Bus aus dem Valle Onsernone nach Locarno und von dort wie auf dem Hinweg nach Hause zurück.
Mit dem Auto:
Über die Alpenpässe Nufenen, Gotthard und San Bernardino aus Westen, Norden und Osten kommend bis nach Locarno. Dort am besten in die Centovalli-Bahn umsteigen und bis zum Ausgangspunkt in das Dorf Intragna fahren.
Aus Süden aus Lugano an der schweizerisch-italienischen Grenze kommend über die A2 und A13 bis nach Locarno fahren. Alternativ am Ufer des Lago Maggiore entweder auf den Fernstrassen SS34 (Westufer) oder SS394 (Ostufer) bis nach Locarno und dort wieder weiter mit dem Zug bis nach Intragna.
Alternativ kann das Auto auch in Intragna parkiert werden, da der Bus aus dem Valle Onsernone über Intragna fährt. Ein kleiner Parkplatz befindet sich am Eingang des Dorfes, für den am Parkautomaten gezahlt werden muß.
Mit dem Flugzeug:
Die Flughafen Zürich und Bern sind durch tägliche Direktflüge mit allen wichtigen Städten in ganz Europa verbunden. Von dort wie oben beschrieben weiter mit dem Zug nach Locarno. Eine andere Option ist die Anreise via Mailand. Von dort fahren ebenfalls regelmäßige Verbindungen der SBB via Lugano und Bellinzona bis nach Locarno.
Beste Jahreszeit:
Das Tälerhüpfen zwischen dem Centovalli und dem Valle Onsernone mit dem Gipfelsturm auf den Pizzo Ruscada ist während einer extra langen Wandersaison möglich. Durch die südliche Lage kann man die Wanderung meist von April bis spät ins Jahr, November oder in schneearmen Wintern gar bis Dezember, unternehmen.
Übernachtung:
Alla Capanna auf dem Monte Comino. Die saubere und gemütliche Berghütte hat von Anfang April bis Oktober geöffnet. Eine Reservierung vorab ist zu empfehlen.
Text & Bilder: Jana Wessendorf