Buchtipp:
Reinhold Messner – Berge versetzen
Ich möchte euch hiermit das schon im März 2010 im BLV Verlag von Reinhold Messner erschienene Neuausgabe des Buches “Berge versetzen” vorstellen.
Im Scheitern liegt Aufbruch
Am Anfang steht Umkehr. Im Winter durch Grönland? Eine Nummer zu groß. Damit beginnt der Streifzug des Grenzgängers Reinhold Messner zu den Marksteinen seines Lebens. Ob von Erfolg gekrönt oder zum Scheitern bestimmt zeigen sie alle, wie das Undenkbare denkbar, das Nicht-Machbare machbar wird. Das Entscheidende ist die Motivation.
Mit “Berge versetzen” von Reinhold Messner ist ein Buch in Neuauflage erschienen, das absolut außergewöhnliche Erlebnisse mit tiefgreifenden Erkenntnissen kombiniert. Wer Messner als Leser folgt – vom Nanga Parbat durch die Antarktis bis in die Wüste Takla Makan -, wird nicht nur Zeuge atemberaubender Augenblicke, tödlicher Gefahren und schier unmenschlicher Leistungen an den entlegensten Orten der Welt. Er erfährt auch, dass Scheitern stets am Anfang von etwas Neuem steht. Dass Stärke aus Begeisterung erwächst. Dass nicht der Nutzen, sondern der persönliche Sinn eine immense Triebkraft ist. Zwölf Stationen in Tagebuchform sind verbunden mit zwölf Schritten, die allen nützen, die in ihrem Leben – beruflich oder privat – neue Impulse setzen wollen. Gefragt sind Visionen, Planung und Ausführung, Logistik und Strategie, Koordination und Leadership! Inbegriffen sind Momente des Ausgebranntseins, der Niederlage, des Neuanfangs.
Nicht nur bei Motivationsvorträgen für Führungskräfte gibt Messner sein Wissen zum Beispiel um optimales Risikomanagement weiter. Auch hier schlägt er auf ebenso persönliche wie spannende Weise den Bogen von seinem besonderen Erfahrungsschatz zu unserem Alltag. Das macht “Berge versetzen” zu einem faszinierenden Ausflug an die Grenzen des menschlich Möglichen – und zu uns selbst. Und es zeigt auf anregende Weise, wie wir selbst “Berge versetzen” und über uns hinauswachsen können.
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Leseprobe:
“Im Tun weiß ich, was richtig und was falsch ist.”
Logistik und Strategie
Seit dem Beginn meiner Auslandsbergfahrten war mir klar, dass die alte, klassische Form der Himalaja-Expeditionen überholt war. Aber es dauerte lange, bis ich wusste, wie ich aus diesem in einem knappen Jahrhundert festgeschriebenen System aussteigen konnte. Ich suchte lange nach einer alternativen Strategie. Dann musste ich diese erst noch umsetzen lernen.
Bei der Pyramidenform einer Expedition arbeiten viele Talträger (oft 1000), Bergsteiger und Hochträger unter der straffen Führung eines Expeditionsleiters zusammen, auf dass einer, zwei oder drei am Ende den Gipfel erreichen. Die Logistik dabei entspricht der eines kleinen Industriebetriebs. In den unteren Lagern braucht es viele Zelte, Reserven, Ausrüstung. Dort sind die weniger geschulten Träger und Bergsteiger eingesetzt. Dort leben all jene, die die oberen Lager versorgen. Nach oben hin werden es immer weniger, die klettern, die den Aufstieg vorantreiben.
Diese Konstruktion setzt nicht nur eine Menge Material voraus – oft sind es zehn oder 20 Tonnen -, sondern auch eineMenge an Organisation. So eine Großexpedition dauert lange. Sie ist beim häufigen Schlechtwetter, das in den großen Gebirgen der Erde verheerende Folgen haben kann (Lawinen!), gefährlich, und sie ist auch nicht allzu erfolgversprechend. Schönwetterperioden können wegen der Schwerfälligkeit des Apparats nicht blitzartig genutzt werden.
Ich brauchte fünf Jahre, bis ich wusste, wie meine Expeditionsform auszusehen hatte. In diesem fünfjährigen Reifeprozess hatte ich zuerst eine Vision. Dann entwickelte ich eine praktische Vorstellung der Realsituation dazu. Ich wollte einfache Strukturen und Schnelligkeit. Das war nur möglich mit mehr Eigenverantwortung und weniger Material. Nicht eine Truppe, die von einem Organisator dirigiert wurde, kam meinem Ideal nahe, sondern ein Team, das nach demokratischem Muster funktionierte. Im besten Fall brauchte ich nur einen Partner. Zudem wollte ich wenige Schritte vorausorganisieren, am Berg viele spontane Entscheidungen treffen.
So war mein Stil auch beim alpinen Bergsteigen gewesen. So entsprach es meinem Wesen. Mein Ziel war es, einen praktischen Versuch zu starten. Diese Realutopie in die Tat umzusetzen wurde beherrschend in meinem Leben. Sicher, ich war auch vorher ein Neuerer gewesen. Ständig hatte ich nach neuen Wegen Ausschau gehalten, war bemüht, die Grenzen – die des Bergsteigens und meine eigenen – weiter und weiter hinauszuschieben. Jetzt ging es um einen neuen Stil. Das war mehr.
Ich habe für diese meine erste Zwei-Mann-Expedition auf einen Achttausender keinen Computer gebraucht, um Logistik und Strategie zu erarbeiten. Ich habe die Kostenrechnung auf einen Briefumschlag geschrieben. Auch die einzelnen Schritte, um auf den Gipfel zu kommen. Darunter Risiken und Erfolgschancen. Die Rechnung ging auf, wenn wir Bergsteiger »funktionierten«.
Dabei gehöre ich nicht zu den Wundermenschen, die wie Yogis im Himalaja auf Kommando ihren Herzschlag herabsetzen können oder ihre Körpertemperatur. Auch habe ich meine Muskeln nicht auf minimalen Sauerstoffverbrauch trainiert. Zwei Achttausender hatte ich vorher bestiegen – beide ohne Sauerstoffgerät – und meine Erfahrungen dabei gesammelt. Das war alles. Sicher ist durch Training, Selbstkontrolle, Vorwegdenken das vegetative Nervensystem beeinflussbar. Dies alles aber tat ich nicht bewusst. Vielleicht ahnte ich, dass Gedanken, die durch Gefühle verstärkt werden, mehr Energie haben. Und noch etwas: Ich fieberte diesem Grenzgang mehr entgegen als allen anderen vorher.
Ich wusste, dass ich nicht krank werden durfte, und mein Vertrauen in Peter Habeler war stark. In jeder Hinsicht. Ich bin nur einmal (am Kangchendzönga, 1982) bei einer großen Reise krank geworden. Als ob die Stärkung meines Immunsystems eine begleitende Maßnahme der Hochstimmung beim Aufbruch wäre. Das Unterwegssein im Grenzbereich hat mich immer gesünder gemacht, als ich daheim war.
Warum konnte mein neuer Expeditionsstil schneller, erfolgversprechender und gleichzeitig weniger gefährlich werden? Es waren weniger Menschen im Spiel. Wir wenigen konnten bei Schlechtwettereinbrüchen schnell reagieren, vom Berg absteigen. Auch schneller wieder aufsteigen, als dies einer großen Mannschaft möglich gewesen wäre.
Die Strategie meiner Kleinstexpedition sah ganz anders aus als die eines herkömmlichen Großunternehmens. Ich wollte Gutwetterperioden ohne Vorarbeit nützen, um möglichst hoch auf den Berg hinaufzukommen, und fluchtartig wieder ins Basislager absteigen. Nicht die Vorarbeit und nicht das Ausharren am Berg, wie bei der Großexpedition, waren wichtig, sondern blitzschnelles Agieren.
Diese Vorgehensweise entspricht einem Abbau von Hilfskräften und der Dezentralisierung. Zwei sind ein demokratisches Team. Einheimische werden als Träger nur bis ins Basislager eingesetzt. Sie sind also nicht mehr die »Wasserträger der Sieger«, wie jahrzehntelang die Sherpas, die Dutzende Male Lasten durch die gefährlichsten Zonen des Aufstiegs schleppten, nur damit ein paar Sahibs (Weiße) »auf ihrem Rücken« zum Gipfel kommen konnten.
Das Zerlegen einer Expedition in kleinstmögliche Einheiten (Talträger bis ins Basislager, Expeditionsküche nur dort, ein oder zwei Seilschaften am Berg), wo bei jede Einheit ihre dezidierte Aufgabe übernimmt, garantiert so größtmögliche Flexibilität und Schlagkraft. Jede dieser Gruppen steuert sich bei weitestgehender Eigenverantwortung selbst, die Materialflüsse werden auf ein Minimum reduziert. Zudem werden Entscheidungsprozesse beschleunigt und Umweltschäden minimiert.
In unserer westlichen Industriegesellschaft, die auf Leistung, Geld, materiellen Gewinn ausgerichtet ist, müssen diese meine Aussagen zwangsläufig Widerspruch hervorrufen: Einerseits propagiere ich Verzichtsdenken, andererseits Erfolgsmaximierung.
Nun hat Verzicht nicht unbedingt mit Verzicht auf Leistung zu tun. Ich kann Leistung einbringen, weil ich verzichte. Mein Verzicht bei diesen Grenzgängen bezieht sich auf die Technologie, auf Helfer. Ich könnte mit dem Skidoo oder im Flugzeug zum Nordpol fahren, hin und zurück, und ich wäre dort gewesen. Aber das interessiert mich nicht. Es reizt mich nicht, weil es keine Leistung ist.
Ich will bei Grenzgängen von vornherein auf Flugzeug und Motorschlitten verzichten. Nicht nur wegen der Umweltverschmutzung. Wegen des Spiels, dem ich meine Regeln geben! Wenn wir alle anfingen, freiwillig an diesem Wochenende das Auto stehen zu lassen und stattdessen spazieren gingen; wenn wir auf den ununterbrochen laufenden Fernseher, auf das Telefon verzichteten, könnten Werte wie Stille, Harmonie, Ruhe bewusst werden. Wäre das kein Gewinn an Lebensqualität?
Gewinnmaximierung kann nicht nur darin liegen, dass wir von allem immer mehr haben wollen. Wir verbrauchen auf der Erde in einem Jahrhundert die Energie, die in Zigmillionen Jahren gespeichert worden ist. Die Gewinne daraus werden nicht genutzt, um neue Energieformen zu entwickeln; wir verbrauchen sie. Für immer. Wir haben einen Lebensstandard erreicht, der wahrscheinlich der höchste ist, den die Menschheit je erreicht haben wird. Sicher, noch funktioniert unser System. Rein wirtschaftlich gesehen, sogar ausgezeichnet. Wenn wir aber nicht lernen, freiwillig zu verzichten, werden wir zum Verzicht gezwungen werden.
Grenzgänge müssen nicht sein. Also muss wenigstens die Einschränkung zwingend sein.
Nachdem meine Team-Material-Gewicht-Rechnung stand, der Starttag festgelegt und die Zeitdauer der Expedition umrissen war, konnte ich auch an eine Strategie vor Ort denken. Diese allerdings war abhängig vomWetter, von unserer Akklimatisation und nicht zuletzt von unserer Gesundheit. Also ließen wir unsere Vorgehensweise weitgehend offen.
Meine Bemühungen beim Ausarbeiten der neuen Strategie galten dem Verhältnis Problemstellung – Lösung. Die Miniaturisierung der Expedition kam dabei nicht nur der Eleganz der Besteigung zugute, sondern auch dem Kostenaufwand.
Eine Expedition, die zehn Tonnen ins Basislager verschiebt – oft gehen dem weite Flugstrecken und Anfahrtswege voraus – , kostet eine Menge Zeit und vor allem sehr viel Geld.
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Der Autor:
Reinhold Messner, 1944 in Südtirol geboren, bestieg bereits als 5-Jähriger seinen ersten Dreitausender. Nach seinem Technik-Studium verschrieb er sich ganz dem Bergsteigen. Ein Leben als Grenzgänger folgte. Seit 1969 unternahm er mehr als hundert Reisen in die Gebirge und Wüsten dieser Erde und schrieb vier Dutzend Bücher. Dabei gelangen ihm viele Erstbegehungen, die Besteigung aller 14 Achttausender sowie der “seven summits“, die Durchquerung der Antarktis, der Wüsten Gobi und Takla Makan sowie die Längsdurchquerung Grönlands. Im Gegensatz zu modernen Abenteurern geht es Reinhold Messner weniger um Rekorde als vielmehr um das Ausgesetztsein in möglichst unberührten Naturlandschaften und das Unterwegssein mit einem Minimum an Ausrüstung. Zwischen seinen Reisen lebt Reinhold Messner mit seiner Familie in Meran und auf Schloss Juval in Südtirol, wo er Bergbauernhöfe bewirtschaftet, schreibt und museale Anlagen entwickelt. Seit einigen Jahren widmet sich Reinhold Messner seinem Projekt Messner Mountain Museum (MMM) sowie seiner Stiftung (MMF), die Bergvölker weltweit unterstützt.
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“Berge versetzen”
Das Credo eines Grenzgängers
Reinhold Messner
256 Seiten, 60 Farbfotos, 6 Zeichnungen, 19,3 x 26,6cm, laminierter Pappband
ISBN: 978-3-8354-0594-3
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Quelle: BLV Verlag